[1999]


[Juni]


Manchmal gar, wenn auch noch die Nachtigallen zutraulich aus dem Garten herüberpiepen, denke ich morgens beim Einschlafen: dieser könnte es doch sein - ich meine, er ist ein wunderhübscher Mann, er hat abends bei der Unterhaltung an den richtigen Stellen gelacht, es war eine zauberhafte Nacht ... und überhaupt wäre ich vielleicht ganz glücklich, wieder einmal mit dem selben wunderhübschen Mann, der an den richtigen Stellen lacht, in den Winterurlaub zu fahren, mit dem ich die Frühsommernachtigallen  belauscht habe ...

Als ich mittags endlich wach werde, ist er weg, im Zimmer schwebt nur noch ein Hauch vom frischen Duft seiner Haut und mir wird klar, daß es ja mal so kommen mußte – wie konnte ich nur glauben, daß mir das niemals passieren würde: daß mir ein Phoenix wegfliegt? Auf dem Weg zum Bad erkenne ich, daß das ja endlich eine wirkliche Aufgabe für mich ist: ich muß ihn wiederfinden, unter 6 Milliarden Menschen muß ich IHN wiederfinden, ihn irgendwo am Hindukusch aufspüren und ihm mein Herz zu Füßen legen - all die Jahre einsamer Suche nur aufrecht gehalten von Liebe, Hoffnung und der Erinnerung an den frischen Duft seiner Haut, den ich zuletzt irgendwo in Europa, in meinem abgestreiften bürgerlichen Leben eingeatmet hatte ...

Nach dem Zähneputzen, auf dem Weg zur Küche, werde ich hinsichtlich der bevorstehenden lebensverändernden Suche zeitweilig etwas unsicher: ich mag nämlich gründliches Zähneputzen, und ich bin nicht überzeugt, daß man in den Gebirgsdörfern am Hindukusch genügend Tuben der von mir bevorzugten Zahnpasta bereithält: die Dimensionen des Opfers, das zu bringen ich im Begriffe bin, beginnen sich langsam abzuzeichnen ... da sehe ich ihn in der Küche stehen, sein strahlendes, momentan auch ein ganz kleines bißchen schüchternes Lächeln aufgesetzt – und Kaffee hat er auch gekocht, nicht so 'ne entsetzliche Brühe aus der Maschine, sondern schön stark und türkisch, ohne Zucker oder so: ganz wie ich es mag, sieh an, das hat er sich also gemerkt, dabei hatte ich es nur beiläufig irgendwann letzten Abend erwähnt ... steht da und lächelt mich schüchtern an.

Selbstverständlich bekommt er einen Kuß ... und sein Kuß nimmt mich regelrecht mit, er saugt sich an mir ins Leben. Er wäre nicht der erste.
Übersteht er es, wird er stark sein – und traurig.
Ein Kuß also.
Man muß sich schließlich Steigerungsmöglichkeiten offenhalten: für Kaffee 'nen Kuß, Herz zu Füßen bei Auffinden am Hindukusch – falls er da wirklich mal hinrennt und ich mich tatsächlich entschließe, abgesichert mit einem Rucksack voller Zahnpastatuben, ihn dort zu suchen.

Natürlich verachte ich mein betriebswirtschaftliches Denken: von wegen Steigerungsmöglichkeiten offenhalten und so ... aber isses nicht so? Was, wenn er auch noch backen kann? Trotzdem weg mit der Berechnung – zurückgelächelt und was liebes gesagt, bißchen was lustiges erzählt. Der Geist wird langsam wach, es wird sicherlich ein herrlicher Tag.