[1999]


[Dezember]


Neulich hab ich mich ja wegen vergrippter Freundeskreise tatsächlich mal wieder allein durchs Berliner Nachtleben geschlängelt, melancholisch befunden, aus dem Schlampenalter irgendwie raus zu sein und schließlich mit einer Art Selbsthilfegruppe mutmaßlich pädophiler kroatischer Fußfetischisten wichtige Beweismittel gegen eine heruntergekommene ostdeutsche Rennommierbrauerei vernichtet.
Nun ja, mancherlei Verheerungen können den fidelen Frieden eines still-zerstreuten Zauberlehrlings zausen - die denkbar bizarresten blühen immer mir, scheint es.

Andrerseits war es so schlimm nun wieder auch nicht und in der darauffolgenden Woche waren auch die werten Freunde und Bekannten größtenteils genesen und folglich hungrig. Mithin konnten wir an dem Wochenende die weihnachtlichen Überernährungsfestspiele anhand einer schön krossen Gänseleiche* einläuten. Ein bißchen entsetzt war ich dabei freilich über den Gastgeber, in dem ich bis dahin einen Mitstreiter wider die vermaledeite Adventsduselei zu kennen glaubte. Aber WAS mußte ich in seiner Wohnung, gleich an der rechten oberen Bücherschrankecke entdecken? Eine WEIHNACHTSKUGEL!!! Habe ihn natürlich sofort des blanken Terrorismus geziehen! Immerhin wäre es mir aber beinahe gelungen, eine gemeinsame Freundin, die gerade Zwillinge ausbrütet, dazu zu überreden, mit Filzstift ein Mondgesicht auf das Objekt des Mißfallens zu kritzeln: Weihnachten mit menschlichem Antlitz, sozusagen ... schade, vielleicht beim nächsten Mal. -


Übrigens bin ich in Sachen Silvester noch immer reichlich unentschlossen - schrecklich, was? Manchmal überlegte ich ja, nach Mexico zu düsen und dort in irgendeiner klitzekleinen Kneipe ganz am Rande dem möglicherweise melancholischen Wirt Gesellschaft zu leisten beim Zählen seiner Tequila-Vorräte für die just anbrechende Epoche.

Damit müßten wir natürlich immer wieder von vorne anfangen, weil sich solche Bestände in meiner Gegenwart zu verändern pflegen ... vielleicht gäbe es auch noch einen reizenden Kellner oder weiteren Gast, man kann das nicht mit Bestimmtheit ausschließen, und kann auch sein, daß es dann noch schöner würde. -


Nun hat man mir gesagt, da wäre jetzt wohl kein Flug mehr zu bekommen - aber mich Monate zuvor auf diese Variante festzulegen, hätte mir auch nicht gepaßt.

Das also dazu.

Und nun wieder zur Unentschlossenheit.

In Berlin leben ja neben Scheusalen, Ekeln**&Widerwarten auch allerhand sehr sympathische, aufgeschlossene und viel zu selten gesehene Zeitgenossen (respektive, da sind wir gar nicht so, "-innen"). Damit kann man mich schon motivieren. Das funktioniert mit Rostock aber auch, Nantes und Dresden ließen ebenfalls schon fragen.

Favorit bislang war die Trotz-Variante: während ich seit Jahrzehnten zu Silvester IMMER unterwegs war (Schottland, Frankreich, Tunesien, Thüringen, Italien ...) könnte ich mir vorstellen, diesmal, just da in noch jedem Spießer der Spektakeldrang gewaltiger denn je zappelt, einen Abend mit lärmabgeneigten Zahnärzten in einem sonst eher studentisch bewohnten hochragenden Rostocker Plattenbau zuzubringen. Andrerseits ... kommt sogar Dresden teilweise nach Berlin, d.h. einer der lange nicht besichtigten Freunde von dort rückt an. Berlin macht ferner dadurch auf sich aufmerksam, daß es im Rahmen irgendeiner Geburtstagsreihe sämtliche Gustaf-Gründgens-Filme zeigt und ein zuweilen ulkig frisierter BWL-Student vielleicht nicht in die Schweiz fährt. Alles in allem schält sich also wohl doch wie ein Hühnerauge aus löchrigem Strumpf die Nominalkapitale jener Weltgegend, der zur Heimat mehreres fehlt, die wir aber der Einfachheit halber immerhin so nennen wollen, als die GROSSE ALTERNATIVE heraus.

Scheint fast, als blieben nun die leisetretenden Dentisten allein in ihrem bedrohlich schaukelnden Wolkenkratzer. Bißchen viele Adjektive in den letzten Sätzen, was? -



*Es war einmal eine Gans, die stellte sich Weihnachten als ein Fest der Liebe vor.


** Der Berliner ist im allgemeinen ein Ekel, im besonderen zwei Ekel, die Berlinerin ist ein ganzes Konglomerat von Ekeln. (Egon Erwin Kisch)