Betriebsausflug mit der ZeitungAnSich
oder: Mittag. Zweimal.





Im Grunde sind wir von der ZAS ja wie eine große, glückliche Kulturredaktion. Weil das so ist, müssen wir uns nun auch gemeinsam in Erholung tummeln - so der Ratschluß unserer kapriziösen Chefredakteure, um derentwillen ich jetzt einem Betriebsausflug sondergleichen entgegensehe. Dabei ist es schon schlimm genug, wenn ich mein hauptstädtisches Nest periodisch zu den Redaktionssitzungen verlassen, und statt meines garstigen grünen Weckers den nicht minder skurrilen Schoppenhauer ertragen muß... Schoppenhauer ist ein Mensch, der immer genau das meint, was er zu sagen glaubt, während alle anderen glauben, daß er genau das, was er sagt, unmöglich meinen könne. Manchmal stellt sich Jahrhunderte nach einer Äußerung Schoppenhauers und der üblichen unmittelbaren Verstörung heraus, daß es noch eine entlegene Deutungsvariante gibt, die nicht nur bei mir aus gutem Grund regelmäßig bereits im allerersten Wahrscheinlichkeitsfilter steckenbleibt, auf die er aber gezielt hatte. Der ist so.
Schön, zu Schoppenhauers Höhle also soll ich mich verfügen, sobald der Eile-mit-Weile-Zug der Reichsbundesbahn die Kapitale des hohen Nordens erreicht hat.

     Moi j'essuie les verres
     Au fond du café
     J'ai bien trop à faire
     Pour pouvoir rêver
     Mais dans ce décor
     Banal à pleurer
     Il me semble encore
     Les voir arriver...

Unter bestialischem Geheul der wundgeriebenen Räder wird der Zug langsamer, bleibt endlich stehen. Eine schwammige Frau vor mir reißt hektisch die Tür auf, merkt dann, daß sie irgendwas vergessen hat, rennt panisch, mit hochfliegenden Wurstfingern, den Gang zurück.
Ich hoffe sehr, daß die GSG 9 heute blau macht,und trete hinaus auf den traditionell schmuddeligen, kleinen Bahnsteig. Immer bereit. Immer lebe die Sonne. Auch wenn der unsymmetrisch verfettete Schaffner es ihr zu verargen scheint, daß sie keine Dienstmütze trägt. Er blinzelt sie böse an, dann mich, und schließlich brüllt er: "Einsteigen! Türen schließen!". Eine Lautsprecherstimme sekundiert barsch-beflissen:  "Zuuhuuuurücktretennn!!!" und ich fühle mich nun doch umzingelt. Trotzdem, auch wenn meine Befehlsverweigerung den Beamten sehr verdrießen muß, ihn noch galliger dreinzuschauen nötigt: ich bin grade erst ausgestiegen, kann beim besten Willen nicht weiterfahren, denn man erwartet mich hier. Außerdem will ich ja gar nicht.

Karons Herz trommelte bis zum Hals, er rannte so schnell er konnte, ab und zu drehte er sich nach den anderen um. Karon war jung und ein guter Läufer, es war nicht die Anstrengung, die sein Herz in Aufruhr versetzte. Ja, wenn es nach ihm ginge! Aber die anderen mußten ihn noch sehen können, damit sie nicht Zeit verlören bei der Suche nach dem richtigen Pfad. Er, Karon, mußte nicht suchen. Es war etwas in ihm, das ihn mit aller Kraft in eine Richtung zog, und er wußte, es war die richtige. Sie waren so langsam! Und jeder Augenblick war entscheidend: vielleicht, bestimmt lebte Tires noch! Karon zwang sich, einen Moment anzuhalten, damit die anderen ihn einholen könnten. Der Gehilfe der Priesterin war bei ihnen, er war dick und träge, aber nur er konnte seinen Freund Tires erlösen. Der Gehilfe der Priesterin war es auch gewesen, der Tires an den Baum gefesselt hatte, weit weg vom Dorf, während die Priesterin der Großen Mutter ihre Beschwörungen gemurmelt hatte. Karon war nicht dabeigewesen, vor vier Tagen, aber er wußte, daß es so gewesen war, denn es mußte so sein. Er konnte nicht mitgehen, an dem Tag, als sie seinen Freund Tires auszusetzen gingen. Er war einfach reglos geblieben, hatte sich einen ganzen Tag und eine Nacht nicht bewegt. Dann hatte er geweint, heimlich, keiner sollte es sehen, denn er war doch einer der Starken unter den Jüngeren.
Jemand hatte der Priesterin ihr zauberkräftiges Amulett gestohlen, das sie nur bei besonders feierlichen Beschwörungen anlegte. Die Priesterin hatte dann das Feuer befragt, und hinterher gesagt, Tires war es. Tires war auch einer von den Starken, nicht so stark wie Karon, aber dafür sehr, sehr klug. Niemand im Stamm verstand, warum Tires etwas so Dummes getan hatte, der Priesterin ihr zauberkräftiges Amulett zu stehlen. Jeder wußte doch, daß seine Berührung einem Unglück brachte, wenn man nicht zu den Eingeweihten der GroßenMutter gehörte. Dann hatten sie Tires ausgestoßen aus dem Stamm und an einen weit entfernten Baum gebunden, wie das Gesetz es verlangte: damit ihn dort die wilden Tiere töteten. Gestern nun war der alte Permu gestorben, der schon alt gewesen war, solange Karon zurückdenkenkonnte. In seiner Hand hatten sie das Amulett gefunden. Dann hatten die Alten beraten: war Tires unschuldig? Vielleicht war es ein Zauber, daß das Amulett zurückkam. Die Priesterin konnten sie nicht fragen, denn sie hatte sich zu ihrer heiligen Ruhe in den Wald zurückgezogen. Die Alten berieten lange.
Heute früh, kurz bevor die Priesterin mit den Eingeweihten wiederkam, hatten die Alten ihren Entschluß gefaßt: Tires sollte zurückgeholt werden. Wenn es ein Zauber gewesen wäre, der das Amulett wiedergebracht hatte, dann hätte es zur Priesterin kommen müssen, nicht zu einem Sterbenden, dem es noch im Reich der Großen Mutter Unglück bringen konnte. Die Priesterin überlegte auch lange, doch dann schickte sie ihren Gehilfen mit den anderen, denn nur sie selbst oder er konnte Tires vom Fluch des Stammes erlösen.
Karon sah die anderen herankommen, nun lief er wieder. Es tat ihm gut, so schnell zu laufen, wie er nur konnte; er hatte das Gefühl, dadurch alles für seinen Freund zu tun, was in seinen Kräften lag. Bald spürte er, daß es nicht mehr weit sein konnte, alses plötzlich wie ein Schlag über ihn kam. Er stand, oder besser: es stellte ihn. Er hatte eine kurze Vision von einem riesigen, blauen Ungetüm, das mit zwei kurz über dem Boden gleißend hell funkelnden Augen brüllend auf ihn zukam. Es war so unvermittelt vorbei, wie es gekommen war. Karon konnte nichts damit anfangen und schalt sich wegen seiner Schwäche, wo es doch um Tires ging, in jedem Moment! So schnell, wie er nun weiterlief, war er noch nie gewesen; er ahnte, daß er beinahe am Ziel war, die anderen würden es nun auch finden, nichts hielt ihn mehr zurück. Dann sah er den Baum, zu dem es ihn gezogen hatte.
Karon merkte nicht mehr, wie er schrie, er stürzte auf Tires zu, löste die Fesseln und fiel zusammen mit dem zu Boden gleitenden Leib des Freundes. Die anderen fanden ihn wirr und zuckend neben dem von vielen Eisenkrallen zerfetzten Leichnam.

Mir bleibt noch über eine Stunde bis zum verabredeten Treffen bei Schoppenhauer. Was macht man damit? Auf Bahnhöfen zu sitzen, hat meist ein bitter-wehmütiges Gefühl der Heimatlosigkeit zur Folge. Und als Ursache. Es ist der notorische Nörgler, der das aus mir sagt, dafür wird er auch nicht als weltenmüde, nicht als leidend weise, sondern eben als nörglerisch bezeichnet - von dem ungeduldigen und ewig dreijährigen Kind in mir, das des Nörglers ständiger Widerpart ist, ihn aber langsam satt hat. Es kann das alles nicht glauben. Vergiß es, möchte es sagen, vergiß alles. Doch im gleichen Moment hält es sich naiv erschrocken die Hand vor den Mund, weil es gesprochen hat, wie all die Erwachsenen um uns herum: man muß vergessen, weil man sonst vielleicht nicht weiterleben kann. Und man muß doch weiterleben. Hier schweigt der Nörgler; er und das Kind sehen sich an, und wissen, daß sie sich brauchen: Wenn man muß, dann hat es doch gar keinen Sinn, dann muß man eben nur, so wie man trinken muß. Warum darf ich nicht nach meinem Wollen suchen?
Es ist ja nicht so, daß es immer dasselbe wäre mit den Bahnhöfen. Heute zum Beispiel habe ich für einige Taler die Wehmut zum Gepäck in ein Schließfach gesperrt und den Bahnhof verlassen.
Man kann das.
Aber auch so ein Bahnhof merkt oft gar nicht, wenn er verlassen wird. Nun sitze ich draußen auf einer Parkbank und bin nicht mehr sicher, ob ich das wirklich kann: den Bahnhof verlassen. Mir scheint, ich habe ihn mitgenommen. Entweder fehlt er jetzt dort, wo er vorher war - ich kann den Platz von hier aus nicht sehen - und all die vielen Leute, die darin waren, laufen jetzt ratlos umher, oder alle Welt ist Bahnhof geworden. Das letzte ist wohl wahrscheinlicher, denn Leute sind nie ratlos. Sonst würden sie doch Fragen stellen. Sie stellen aber keine Fragen, jedenfalls nie die richtigen. Nach der Uhrzeit, nach dem Bahnsteig, nach dem Klo, ja, danach erkundigen sie sich zuweilen. Aber es ist noch nie einer auf mich zugekommen mit der Frage, ob ich ihn liebe. Oder wen denn sonst. Oder ob überhaupt.

      Ils sont arrivés
     Se tenant par la main
     L'air émerveillé
     De deux chérubins
     Portant le soleil
     Ils ont demandé
     D'une voix tranquille
     Un toit pour s'aimer ...

  "Guten Tag. Roland ist leider momentan nicht zu Hause, oder er hat überhaupt keine Lust, jetzt ans Telefon zu gehen. Jedenfalls hat er mich, seinen automatischen Anrufbeantworter, beauftragt, mir Ihre Mitteilungen zu merken - wenn sie wichtig sind. Bitte sprechen Sie jetzt oder nie! Tüüüüt."
"Äh, Roland, ich wollte eigentlich nur, ...ach Scheiße,ich hasse Anrufbeantworter, na jedenfalls kannst Du..., ach, weißt Du..." Roland taucht verstört aus der Dämmerung auf, in die er neuerdings immer öfter abgleitet. Er versucht angestrengt, etwas schönes zu träumen, doch es gelingt ihm dergleichen nicht. Auch kein Alp. Nur dösen, immer dasselbe; das hatte ihn schockiert, als er es sich zum erstenmal eingestand, jetzt ist er auch daran gewöhnt. Roland hechtet zum Telefon.
"Sabine?!"
"Roland, äh,... na, du bist ja doch da, was soll der Quatsch mit dem Anrufbeantworter?"
Rolands Phlegma, unsanft in die Zimmerecke geschleudert bei seinem Sprung vom Sofa zum Schreibtisch, kriecht langsam wieder an seinen Beinen herauf.
"Ach, reg dich nicht auf, bin ja dran. Also, was willst du denn nun?"
"Ich fahr am Wochenende nach Cottbus, da... da würd' ich gern mal wieder bei dir 'reinschneien."
"Hhm, klar, kein Problem."
"Vielleicht können wir ja was zusammen unternehmen."
"Ja, warum nicht, okay."
"Aber nur, wenn du wirklich Lust dazu hast."
Roland kennt diesen Tonfall, der eine Mischung ist aus Selbstironie und Nötigung.
"Nein, wirklich, ist schon in Ordnung." Die demonstrative Absicht, sie nur ja nicht zu verletzen, eventuell etwas dick aufgetragen. Er weiß, daß sie jetzt leidet, und genießt ihr kurzes, trauriges Schweigen, bevor sie sehr munter hervorsprudelt:
"Also dann, bis zum Wochenende, ich schlag so gegen sechs bei dir auf, wie immer. Tschüß, bis dann."
Sie legt nicht auf. Er kennt auch das. Sie wartet. Er legt den Hörer ebenfalls nicht auf. Ein scheußlicher Moment für sie, auch das weiß er. Ein winziger Stachel, der nicht tötet, den man aber nie wieder los wird, der einwächst in ihre ach so starke Seele, die ausgerechnet bei ihm Halt sucht. Schließlich knackt es doch im Hörer, den Roland in der Hand hält. Ein bißchen gemein kommt er sich manchmal schon vor. Aber ist es seine Schuld, wenn ihn jemand liebt und jeder Nichtigkeit Bedeutung abliest? Sie liebt ihn. Hat sie jedenfalls mal gesagt. Das hätte sie nicht tun sollen. Er mag sie ja, doch, durchaus; er findet sie recht nett, und sie bringt auch ein wenig Abwechslung in seinen Trott, aber daß er sie so billig kriegen kann, macht sie nicht gerade interessanter. Daß das vielleicht schade ist, denkt er manchmal auch. Irgendwie hat sie das Spiel nicht so drauf, scheint es, oder sie will es nicht, kann auch sein.
Ihr Pech.

Karon lag erstarrt und blickte entsetzt, voll Angst, ins Feuer, während die feuchten Hände der Priesterin gierig auf seinem Körper entlangglitten. Jetzt, wo er in ihrer Hütte auf seinen letzten Sonnenaufgang wartete, die Hände auf den Rücken gebunden, sah er zum ersten Mal, daß die Priesterin der Großen Mutter eine häßliche alternde Frau war. Nicht dick, aber teigig, mit bösen Augen ...
 Sie hatten ihn und den toten Freund zum Dorf zurückgetragen, der Gehilfe der Priesterin und die anderen. Kurz bevor sie es erreicht hatten, war Karon zu sich gekommen, mußte aber noch gestützt werden. Kaum im Dorf angelangt, begann der Gehilfe der Priesterin, wie wild umherzuspringen, rhythmisch zu zucken, dabei immer wieder und von überall auf Karon zu zeigen. Karon verstand nichts davon. Er begriff auch nicht die ängstliche Scheu, mit der die anderen ihn betrachteten, ja, er bemerkte sie kaum. Im Handumdrehen war das ganze Dorf um die Angekommenen versammelt, um Karon.
An die Priesterin gewandt, stimmte ihr Gehilfe einen untertänigen Singsang an, in dem er berichtete, daß Tires tot sei und Karon, der als erster bei ihm gewesen sei, seine Fesseln zerschnitten habe. Er klagte, dies hätte keinem anderen als ihm, dem Gehilfen der Priesterin der Großen Mutter angestanden, und nun drohe dem Dorf schlimmes Unheil, weil Karon das heilige Gesetz mißachtete. Karon hatte den Ausgestoßenen befreit, bevor der vom Bann erlöst war; damit war der Fluch unauslöschlich auf ihn übergegangen.
Karon verstand nichts. Ja, er wußte, daß er den Freund nicht vor dem Gehilfen der Priesterin berühren durfte. Hatte er das denn getan? Er konnte sich an nichts erinnern, in ihm war es taub.
Die Priesterin entschied sofort, Karon müsse getötet werden. Er erschrak nur ein bißchen, im selben Augenblick kam ihm die Besinnung zurück.
Die Alten hatten weiter beraten, während Karon mit den anderen unterwegs gewesen war, und nun fragten sie die Priesterin, ob man die Große Mutter nicht überreden könnte, Tires nachträglich als Opfer anzusehen. Die Priesterin wollte es versuchen, sagte sie, aber dazu müsse auf jeden Fall auch Karon geopfert werden. Indessen folgte Karon nicht dem Lauf der Dinge, sondern dachte immerzu an Tires und an jene geheimnisvolle Kraft, die ihn unfehlbar zu dem verhängnisvollenBaum geführt hatte, an dem der Freund gestorben war. Er hörte auf einmal, wie die Priesterin sagte, jeder wisse ja, wie sehr Karon mit dem Toten befreundet gewesen sei. Darum wäre es auch als ein Zeichen des toten Tires anzusehen, daß offenbar sein Geist es Karon eingab, das Heilige Gesetz zu brechen, damit Karon bald zu ihm kommen sollte. Das wollte Karon nicht bestreiten.
... Er spürte den raschen, üblen Hauch der Priesterin in seinem Nacken, das Haar sträubte sich ihm vor Angst und Abscheu; die Priesterin schickte sich an, ihn auf den Rücken zu drehen. Karon hörte vor Entsetzen auf zu atmen. Verzweifelt klammerte sich sein Blick an die züngelnden Spitzen des Feuers, die sorglos mit den durch Spalten im Dach eindringenden Fingern des Mondes spielten. Er dachte daran, daß es morgen - am Mittag - eine große Feierlichkeit geben würde, zu deren Höhepunkt die Priesterin ihm, Karon, die eigens für die Opferungen bestimmte Eisenkralle in die Brust stoßen würde. Er wußte, daß er schreien würde wie ein Tier. Weiter konnte er nicht vorausdenken, nicht weiter als bis zum Mittag. Ein Schauer schüttelte ihn, ausgelöst von einer unbestimmten Hoffnung inmitten der Kälte ringsum. Er dachte an Tires.
 
 

     ... Au cœur dela ville
     Et je me rappelle
     Qu'ils ont regardé
     D'un air attendri
     La chambre d'hôtel
     Au papier jauni
     Et quand j'ai fermé
     La porte sur eux
     Y avait tant de soleil
     Au fond de leurs yeux
     Que ça m'a fait mal,
     Que ça m'a fait mal...
So langsam wird es Zeit für mich. Auf zu Schoppenhauer.
Kaum stehe ich an der Bushaltestelle, da kreischen neben mir die Bremsen eines roten Allerweltsautos und eine mittelgroße, fast schlanke Frau von vielleicht vierzig Jahren saust heraus, auf mich zu, baut sich vor mir auf, spricht mich an: "Junger Mann, ich muß Sie jetzt einfach ansprechen."
Ich bin etwas verwirrt; nach der Uhrzeit fragt man so nicht. Sicherheitshalber setze ich mein undurchdringlichstes Gesicht auf, ein lächelndes übrigens.
"Tun Sie das."
"Haben Sie Lust, für zwei Wochen nach Amerika zu fliegen?"
Es sind Erfolgsmenschen, die keine Mauern sehen.
"Ja, warum nicht."   Komische Situation.
"Dann sagen Sie mir, wann und wo ich Sie erreichen kann, um alles weitere mit Ihnen zu besprechen."
Schoppenhauer wird sich wundern, wenn sie nächsten Montag vor seiner Tür steht. Sie vermutlich auch. Vorerst allerdings stöckelt sie zurück zur roten Mittelklasse und braust davon.
Wenig später erscheint kein Bus, sondern eine Dampflok auf der Straße. Das ist jedenfalls der unausweichliche Eindruck, den ein uralter, irgendwann lindgrün gewesener Mercedes hervorruft, während er sich vom Horizont aus langsam in meine Richtung vorarbeitet. Darin kann nur Schoppenhauer sitzen, das ist logisch. Es stimmt trotzdem. Schnaufend bleibt das betagte Vehikel neben mir stehen, Bertram Schoppenhauer kommt zum Vorschein. Nichts ist unmöglich, so rollt nun auch die Chefredaktion an. Arne erkundigt sich jovial:
  "Nanu, ganz allein heute? Wo hast du denn die reizende Studentin von neulich gelassen, das war doch endlich mal ein Lichtblick unter deinen Damenbekanntschaften!"
Man muß sich nicht alles gefallen lassen.
 "Alle meine Damenbekanntschaften, mit denen ich vorsätzlich Kontakt halte, sind ganz reizend!", entgegne ich etwas grimmig.
"Ich denke nur mal an deine..."
"Die auch!"
"Na, ich danke!"
Ziemlich unerwartet mischt sich René ein, der mir sonst nicht so grün ist:
 "Weißt du, Klaus, der kann da überhaupt nicht mitreden. Der trifft in seinem Haus nur schrullige Zahnbürsten, die er erfolglos mit seinem debilen Kaktus zu verkuppeln sucht. Das traumatisiert natürlich."
"---"
Ein Bus naht heran und hupt erschröcklich. Wir verschanzen uns flugs hinter den Windschutzscheiben, ich neben Schoppenhauer, Aufbruch.
Vorneweg gleitet leichthin die Leitung der Zeitung, Schoppenhauers greiser Benz keucht mühsam hinterher, bald verlassen wir die Stadt. An allen Steigungen, wie geringfügig auch immer, liegt ein ächzender Vorwurf im gequälten Brummen des asthmatischen Wracks. Vielleicht sollte ich wirklich wieder heftiger Sport treiben; jedes Gramm Fett ist ein Gramm Gram, nicht nur für meinen Liebsten, sondern vor allem für ihn, für Schoppenhauers alten Benz. -

Niemand ist da. Roland ist allein. Roland ist niemand. Es war fast immer so gewesen, scheint ihm, denn wiewohl er weiß, daß er vergleichsweise oft unter Leuten ist, sind davon kaum Spuren in seinem Gedächtnis. Das ist auch gut so, denkt er, denn meistens langweilen ihn Leute. Und sich langweilen kann er auch allein. Das kann er sogar gut, findet er - nicht ohne den heimlichen Stolz, der alle Märtyrer auszeichnet von Alters her.
Roland verschwindet, wenn er auf seinem Sessel sitzen und sich dabei hin- und herdrehen kann. Er ist dann einfach weg. Nicht mehr da, nicht glücklich, auch nicht unglücklich (das ist ein Vorteil, redet er sich ein), sondern unempfindlich, wie sonst auch, aber nur hier mit Recht und ohne Bedenken. Mit dem gleichen Effekt liegt er auch gern stundenlang auf dem Sofa.
Sofa, Couch, Chaiselongue, geht ihm durch den Kopf. Früher, als Kind hat er in solchen Fällen wahllos Bücher verschlungen.
Die Musik ist aus. Das Spiel ist aus.
Wer weiß.
Das kraftlos zornige Stirnrunzeln und Brauenzusammenziehen, weil die Fernbedienung aus geheimnisvollem Verhängnis oder natürlicher Bosheit der Materie außerhalb bequemer Reichweite des Sitzenden liegt. Wie er sich daraufhin erhebt, nicht ohne es vorher mit gewagten, mühsam ausbalancierten Streckungen aus dem Drehstuhl heraus versucht zu haben; wie er dann zur Fernbedienung geht, sich in den Sessel zurückfallen läßt. Er hätte auch gleich zur Musicbox gehen können, es war dichter.
Da er sich einmal bewegt hat, behagt ihm die Eindruckslosigkeit seiner mehr als vier Wände nicht länger. Er überlegt, ober er heute abend in irgendeine der angenehmeren Kneipen in der Innenstadt gehen will.
Ja, wird er wohl.

     Moi, j'essuie les verres
     Au fond du café
     J'ai bien trop à faire
     Pour pouvoir rêver
     Mais dans ce décor
     Banal à pleurer
     C'est corps contre corps
     Qu'on les a trouvés...

Schoppenhauer sagt nix.
Aber ich: "Die Neuverschuldung der Primeln sprengt die Grenzen des Sozialverträglichen!"
Bertram Schoppenhauer sieht mich an, als wäre ich ein singendes Schokoladenplätzchen im Maul eines grünlichgrauen Leguans. Er macht ganz den Eindruck, seine Haltung in den nächsten Wochen nicht mehr ändern zu wollen. Das ist bedenklich, denn schon in einer halben Stunde wird die Autobahn zu Ende sein, und es wäre gut, wenn er als Steuermann das dann sähe. Immerhin huscht nun doch ein geschwindes, wie ob seiner Verspätung schuldbewußtes Lächeln über sein Gesicht; er guckt jetzt wie ein grünlichgrauer Leguan, der zum ersten Mal ein singendes Schokoladenplätzchen gefangen hat und sich dabei von Bertram Schoppenhauer ertappt fühlt. Der jähe Wechsel und überhaupt sein lebhaftes Mienenspiel faszinieren mich. Bertram Schoppenhauers Züge bleiben gewöhnlich eher ausdruckslos, und wenn sie das einmal nicht sind, dann sind sie auch nicht zu deuten, jedenfalls stimmen sie nie mit den Empfindungen überein, die anzuzeigen sie doch gehalten wären. Umso gespannter bin ich, ob es ihm nun auch noch gelingen wird, wie ein singendes Schokoladenplätzchen zu blicken, das unter den Augen Bertram Schoppenhauers unverhofft von einem grünlichgrauen Leguan erbeutet wird.
Nein, tut er nicht. Hätte mich auch gewundert. Wenigstens hat er aber verstanden, daß ich das Schweigen nicht mehr ertrage. Schoppenhauer versucht ein Gespräch:
 "Sag mal, du liebst doch diesen verhinderten Sportreporter aus der Bundeshauptstadt."
Hätte ich nur den Mund gehalten.
"Wie kommst du darauf?"
"Also stimmt es?"
"Was fragst du mich das?"
"Du mußt es doch wissen."
"Unsinn."
"Also nicht?"
"Doch."
"Idiot. Dann sag doch gleich ja, wenn's stimmt!"
"Blödmann. Woher soll ich wissen, ob's stimmt?"
"Na hör mal!"
"Wirklich, ich mag die großen Worte nicht: lieben. Ich weiß nur, daß da was ist, was fürchterlichen Lärm schlägt in mir, wenn ich es nicht so nenne."
Schoppenhauer kann partout nicht übers Wetter reden, darum bohrt er weiter:
"Es soll wiedermal im Prinzip aussichtslos sein."
"Vermutlich ist mein Schicksal ein im Prinzip aussichtsloses."
"Von wegen: keine großen Worte."
"Sorry."
"Du versuchst es trotzdem immer wieder?"
"Muß ich doch. Oder?"
"Du bist ein Träumer, Galen."
"Kann sein."
"Das ist krankhaft."
"Ja."
"Und?"
"Was: und?"
"Ich sagte: das ist krankhaft."
"Und ich sagte: ja."
"Es macht dir nichts aus?"
"Vorhin wolltest du, daß ich gleich ja sage, wenn du recht hast."
"Du solltest dich heilen lassen."
"Ich werde ständig geheilt. Oder wolltest du dich als Medizin anbieten?"
Schoppenhauer ist einen Moment irritiert, dann legt er Trauer in seine irgendwie ziemlich alten Augen und grinst mich mitleidig an: "Wirst du drüberkommen?"
Du lieber Himmel, jetzt macht mich der Mann auch noch nachdenklich! Schönes Betriebsvergnügen!
"Wird man drüberkommen?", muß ich wohl versonnen vor mich hingemurmelt haben und ärgere mich jetzt über Schoppenhauers freundschaftlich mitfühlende Gesichtsakrobatik.
'Bin schon über ganz andre Sachen gekommen.', denk ich mutwillig. Aber ist das eine Zuversicht?
Schoppenhauer tut noch immer, als ob er sonstwas oder überhaupt alles mitleiden könne. Wahrscheinlich kann er's auch, das macht es nur schlimmer. Es ist ein Gedanke, den man nicht zulassen darf, denn er raubt das Gefühl der Einmaligkeit; das letzte, was immer wieder bleibt.

     On les a trouvés
     Se tenant par la main
     Les yeux fermés
     Vers d'autres matins
     Remplis de soleil
     On les a couchés
     Unis et tranquilles
     Dans un lit creusé ...



Ich bin ja auch kein Fan von Tempodröhnung und Leitplankenflipper, aber etwas eiliger könnte sie schon rollen, Schoppenhauers abgetakelte Dieselfregatte. Bis vor einiger Zeit haben uns noch Autos überholt, zuerst in steter Reihe, dann immer seltener. Jetzt sind wir ganz hinten, die letzten, das Ende der Schlange auf der Autobahn. Es kann erst Mittag sein, aber mit jedem jüngeren Gefährt, das uns zurückließ, ist es ein wenig dunkler geworden um uns. Inzwischen ist der Himmel schwarz. Schwarz, nicht nur dunkelgrau wolkenverhangen, sondern schwarz. Ohne Sterne natürlich, es ist ja erst Mittag.
In einem Anfall von Jugenderinnerung heult plötzlich der Motor, den ich mir grau und runzelig vorstelle, laut auf - um hernach überanstrengt japsend zu ersterben. Schoppenhauer ist überhaupt nicht verdutzt, sondern läßt das verendete Automobil austrudeln und lenkt es dabei sacht aber bestimmt auf den Standstreifen. Der macht seinem Namen Ehre und kommt binnen kurzem unter uns zum Stehen.
Während wir langsamer wurden, hat es angefangen, vom pechschwarzen Himmel herabzutropfen, zögerlich, vereinzelt zunächst, aber immer heftiger, je näher unser Gespann seinem Ruhepunkt kam. Mittlerweile ist draußen Flut.
Schoppenhauer hat den Innenspiegel etwas zurechtgerückt. Darin beobachten wir uns nun gegenseitig. Die Schwierigkeit, dem gespiegelten Schoppenhauer in die Augen zu sehen.
Worauf wir warten, wissen wir absolut nicht, aber es ist sicher, daß wir jeden eventuellen Vorschlag diesbezüglich verwerfen würden, verwerfen müßten. Wer kennt so eine Situation?
Daß auch dieses Geschehen als Antwort nicht in Frage kommt, denken wir einmütig in dem Moment, da die hintere rechte Tür aufgerissen wird. Sie quietscht empört.
Der sich behend hereinzwängt, trägt gut sitzende Jeans, Sweatshirt und, an den Schultern befestigt, einen schweren roten Seidenumhang, den er elegant mit einer Hand neben sich legt, bevor er sich selbst in die Polster fallen läßt, daß die Karosse wippt: "Scheißwetter, beim Zeus!"
Er zeigt ein ebenmäßiges, aber keineswegs belangloses Gesicht, das Anlaß gibt, ihn auf etwa fünfundzwanzig zu schätzen, kurze, lockige Haare, braune Augen, die mir bekannt vorkommen.
So wie der gebaut ist, darf er schon mal die ollen Griechen beschwören, denke ich bei mir und bin bestürzt über die Schnelligkeit, mit der sich meine Verwunderung ob des unerwartet und dreist erschienenen Fremden in Anteilnahme wandelt: "Da hast du ja Glück, daß du uns hier triffst. Bei dem Guß! Du kannst dich in warme Decken wickeln, wenn du willst, hinter dir liegen welche. Jedenfalls solltest du die nassen Klamotten ablegen, sonst holst du dir hier noch den Tod!"
Er lacht kurz, durchaus herzlich, und antwortet trocken: "Kaum."
Schoppenhauer zieht pädagogisch die Brauen hoch. Das macht er manchmal bei Leuten, die ihn nicht kennen; er möchte, daß sie ihn für einen ernsthaften Menschen halten, weil ihn das belustigt und weil er weiß, daß sie damit bald aufhören werden, wenn sie ihn kennenlernen sollten.
"Das war ein freundliches, fürsorgliches und überaus sinnvolles Angebot meines Kollegen. Überleg es dir. Du könntest dir sonst wirklich eine Lungenentzündung oder sonstwas ekliges holen.", artikuliert er sorgsam. Der Fremde strahlt Schoppenhauer an. Dessen Haltung lockert sich und er grinst zurück. Eine entspannte Freundlichkeit breitet sich aus, umschließt uns alle drei, füllt das Innere des Autos bis in den letzten Winkel, setzt es ab gegen das gleichgültige Fallen der unempfindlichen Wassermassen dort draußen.
"Nein, ich werd' mir gewiß keine Lungenentzündung holen und auch nicht den Tod. Der bin ich nämlich selber."
"Du siehst aber aus, wie's blühende Leben.", fällt mir dazu ein.
"Ja, soll ich vielleicht als häßliches Gerippe mit landwirtschaftlichem Gerät in der Gegend herumklappern?", spricht's und verdreht in einer Art von Entrüstung die Augen, die zu einem Drittel gespielt, zu einem Drittel echte Empörung über ein Vorurteil und zum letzten, aber vielleicht wichtigsten Teil nur Platzhalter für eine Empfindung zu sein scheint, deren Ahnung in mir seiner absurden Vorstellung einen Schimmer von Wahrhaftigkeit verleiht.
Schoppenhauer ist, bei aller Konsistenz, nicht unsensibel. Er spürt das Besondere des Fremden mindestens genausogut wie ich. "Sieh an", versetzt er, "der Tod kennt also ästhetische Kriterien. Und die sind den unseren auch noch ziemlich ähnlich. Bisher glaubte ich, entgegengesetztes begründet annehmen zu können."
Der Fremde starrt Schoppenhauer an, als erkennte er ihn unerwartet wieder.
"Ja, ich habe ‘ästhetische Kategorien'", er sagt es nicht direkt verächtlich, aber doch überspannt, "und sie ähneln teilweise den euren. Oder denen mancher von euch ähneln sie. In der Hauptsache jedoch kenne ich eure Vorstellungen. Und ihr seht mich doch wohl lieber so, statt eines zahnlosen Skelettes!"
"Gewiß, ja, ... sicher ...", kann ich einwerfen, bevor Schoppenhauer mir ohne Bosheit über den Mund fährt, alswäre ich gar nicht hier: "Gut. Aber warum sterben dann solche, deren nicht nur äußerliche Schönheit auch für dich außer Zweifel stehen muß, viel zu früh, während in jeder Hinsicht garstige Kreaturen alle Hoffnung überleben?"
Der Fremde scheint irgendwas genau zu wissen, was sich meiner Kenntnis jedenfalls entzieht, und rutscht plötzlich nervös auf der Rückbank herum.
"Sachzwänge.", murmelt er dann zum Teil trotzig, zum Teil verlegen, zum Teil ... traurig. Schoppenhauer und der Fremde rasten gleichzeitig ein in ein Muster, wie wenn sie zwei eifersüchtige, aber gesellschaftlich korrekte Liebhaber wären.
"Und wieso kommst du jetzt zu uns? Hatten wir einen Unfall, oder was?"
Es ist ein Plauderton, den Schoppenhauer anschlägt, und der Fremde geht darauf ein: "Ach nee, wir sehen uns dienstlich erst in ein paar Jahren nochmal. Eure Chefredaktion säuft mit Ahasver und Odin, wißt ihr, Luzifer hat schlechte Laune, Gott ist seit ein paar Jahrtausenden immer so ernst - er verliert langsam seine Souveränität, glaub' ich, warum soll's ihm besser gehen als mir - und ich liebe einen Cherub, der mich nicht leiden kann. Wo also soll ich wohl hin, bei dem Scheißwetter? Ich meine, ihr seid doch ganz nett und wir könnten uns prima vertragen, oder?"
Ich liebe Suggestivfragen.
"Nett sind wir nur ausnahmsweise, und ob wir uns vertragen, wird sich erst noch zeigen. Spielst du Skat?", frage ich ihn - zugegebenermaßen leicht verstimmt. Der Umstand, daß er von unserer Chefredaktion weiß und berichtet, verwirrt mich etwas. Solange, bis ich dazu übergehe, seine Story schlicht zu glauben. Das vereinfacht vieles. Meine Güte, ich hab' ja auch schon manches und manchen gesehen und erlebt, sogar seinen Chef, von meinen beiden gar nicht zu reden. Trotzdem bin ich von diesem Augenblick an ihm gegenüber befangen. Befangener, als ich aller Vernunft nach sein dürfte. Seine Schönheit, nur zum Beispiel, berührt mich so, als hätte ich darum nicht gewußt.

     Au cœur de la ville
     Et je me rappelle
     Avoir refermé
     Dans le petit jour
     La chambre d'hôtel
     Des amants d'un jour
     Mais ils m'ont planté
     Tout au fond du cœur
     Un goût de leur soleil
     Et tant de couleurs
     Que ça m'a fait mal,
     Que ça m'a fait mal...



Der Tod spielt lausig Skat.
Wenn ich das sage, will das was heißen, denn ich spiele auch nicht gut. Es ist ihm egal, wie wir ihn nennen. Schoppenhauer sagt "Mannhafter" zu ihm, ich rede ihn mit "Bekränzter" an. Die phonetische Analogie zu "Begrenzter" ärgert ihn fast überhaupt nicht. Als ich ihn zum ersten Mal so anspreche, schaut er auf, sieht mir kurz in die Augen, und bemerkt etwas außerhalb des spielerischen Zusammenhangs: "Natürlich wirst du drüberkommen, Klaus. Weißt du übrigens, was das Christentum in Gestalt des Kardinals Ratzinger und seiner Bibel zu dir sagt?"
"Nun?"
"Du sollst nicht bei Knaben liegen wie beim Weibe, denn es ist ein Greuel."
"Mach' ich doch auch gar nicht!", erkläre ich mit gutem Gewissen, denn wiewohl ich "Greuel" für ein zu starkes Wort halte, was Frauen betrifft, so kann ich doch ehrlichen Herzens beteuern, mit diesen anders zusammenzuliegen als mit jenen.
Der Tod grient und verliert wiedermal.
Als es draußen zu regnen aufhört, die Sonne wie neugeboren erstrahlt, erklärt der Tod - Schoppenhauer hat gerade gegeben - lächelnd und ohne Groll:
"Ich habe verloren. Machen wir Schluß!" Dabei legt er seine just erhaltenen Karten auf den Schalthebel, wo sie heftig schaukeln, aber nicht fallen. "Ihr habt einen Wunsch frei an mich.", ergänzt er.
"O Gott, wie im Märchen!", stöhnt Schoppenhauer erheitert.
Der Tod erwidert: "Nicht ganz. Ich schränke das ein. Ihr habt einen Toten frei. Einen gebe ich frei. Schaut aus den Fenstern, links und rechts. Ihr seht zwei sterben."
Hell ist es wieder draußen. Mittag. Zweimal.
Links sehe ich einen Jungen an einen Pfahl gebunden, um den eine Schar spärlich bekleideter Männer herumtanzt. Ein vorzeitliches Opferritual, weiß ich irgendwoher. Auch, daß der Junge Karon heißt und seinen Freund Tires verloren hat, und daß die ältliche, dicke Frau, die mit einem reich verzierten Messer in der Hand neben ihm steht, die Priesterin des Stammes ist. Alles weiß ich über ihn. Eine Rolle, die mir nicht gefällt.
Rechts geht Roland einkaufen, schickt sich an, eine Hauptstraße in seinem Neubaugebiet zu überqueren. Ich sehe was, was er nicht sieht. Nämlich den hellblauen Laster, der von links auf ihren noch imaginären Treffpunkt zurast und verzweifelte Signale mit der Lichthupe gibt, weil er nicht bremsen kann. Roland findet sich vorbildlich, indem er - wegen der vielen kleinen Kinder in seinem Ghetto, die nur darauf lauern, sich in Nachahmung erwachsener Ordnungswidrigkeit ins Verderben zu stürzen - erst dann über die Straße geht, als an der Fußgängerampel das grüne Männlein aufleuchtet.
Der kurze, gellende Schrei Karons, als das Messer in der Hand der Priesterin sein Herz zerreißt, und das schmatzende Geräusch, das Rolands Ende unter einem immer noch lichthupenden hellblauen Lastwagen anzeigt - beide durchbrechen die Stummfilmstille der bisherigen Szenen. Sie mischen sich zu einem Laut, der einem überaus weltlichen Verdauungston ähnelt. Kultische Menschenopfer, Altzeit und Neuzeit, sind die ersten Begriffe in meinem Kopf.
Mit seinem kuscheligen Bariton, der mir vorher gar nicht aufgefallen ist, fragt der Tod: "Einen von den beiden gebe ich frei. Welchen wollt ihr?"
Schoppenhauers Gesichtszüge entgleisen, er beißt die Zähne zusammen und preßt das Lenkrad, daß es kracht - er kämpft, mein Gott, Schoppenhauer kämpft! Während ich zu fassen versuche, was man von mir verlangt, bringt er keuchend hervor: "Gib ... mir..."
"Nein!", ruft der Tod schneidend, "Nein!"
Schoppenhauer erbleicht, wird wieder ruhig, nur rote Flecken bleiben im Gesicht.
"Du hast recht.", sagt er ächzend.
"Welchen?", fragt der Tod so, als wäre nichts gewesen.
Minuten vergehen, dann sagt Schoppenhauer: "Keinen."
"Einen!", sagt der Tod.
"Keinen!", erwidert Schoppenhauer.
Der nun bleich wird, ist der Tod. "Wer bin ich?", flüstert er und entfernt sich hektisch durch die wiederum beleidigt quietschende Tür. In den blendenden Strahlen der Mittagssonne ist er unseren Blicken schnell entschwunden. Schoppenhauer atmet schwer.
Irgendwann bringe ich den Mut und die Herzlosigkeit auf,ihn zu fragen:
"Warum?"
Stille.
"Warum was?"
"Warum keiner von beiden?"
"Sie haben sich beide nicht grade ums Leben gerissen, finde ich. Der eine ist brav zur Zeremonie gegangen, der andre ... naja."
Schoppenhauer sagt es leise, zögernd und wie um Widerspruch bittend.
"Aber Karon war nur verblendet von seinem Glauben, seiner Unwissenheit, irregeführt..."
"Ach, meinst du, der andere nicht?!"
Jetzt funkelt er mich zornig an, bringt mich dadurch zum Schweigen; ich weiß, daß ich etwas dummes gesagt habe, fühle mich aber trotzdem ungerecht behandelt. Er merkt es, lockert sich, lehnt sich im Sitz zurück und schließt die Augen, während er fast flüsternd zu mir sagt: "Du stehst unter Schock, Klaus, du denkst sonst schneller und klarer. Ich weiß, daß ich unsäglich egoistisch entschieden habe - ich hätte es nicht, hättest du dich auch nur gemuckst. Aber so... Was wäre aus Karon geworden? Ruf dir die Bilder ins Gedächtnis! Sein Gesicht, die Augen... Ein Gläubiger! Ein lieber, ja. Geworden wäre er ein ... Roland. Oder ein Bertram. Das hätte ich nicht ertragen. Der anderen Möglichkeit wegen. Verstehst du das?"
Soll ich dazu was sagen? Kaum.
Schoppenhauer dreht das Radio an. Wir hören die Piaf. Unser Französisch reicht aus, uns bis zum Schluß des Titels stillsitzen zu lassen:

    "Moi j'essuie les verres
     Au fond du café
     J'ai bien trop à faire
     Pour pouvoir rêver
     Mais dans ce décor
     Banal à pleurer
     Y a toujours dehors...
     ... La chambre à louer..."

Ein Glas zerbricht. Schoppenhauer fegt die Skatkarten vom Schalthebel und startet den Motor - es funktioniert. Beim Anfahren im dritten - Schoppenhauer ist noch Führer auf Probe - verröchelt die gebrechliche Maschine mit einem Klagelaut, der unsere vom Mitleid gebeutelten Ohren vollends herabhängen läßt. Glück im zweiten Anlauf.
Am Ausflugsziel fidele Chefredaktion getroffen.
Getrunken, gelacht.
Umkehr.
Schoppenhauer fährt mich nach Hause, setzt mich kurz vor meiner Straße ab. Ein paar Schritte. Eine mir näher bekannte Studentin, einen Nobel-Telefonapparat mit Gebührenanzeige untern Arm geklemmt, schlendert entschlossen durch den Kiez. Begegnung:
"Wo willst'n du hin?"
"Ich geh' telefonieren."
Komischer Tag heute.
 

(marvinius.de, irgendwann im Sommer 1994)