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Killing Time


- ein etwas zeitraubendesMärchen
nach den Aufzeichnungeneines
metazyklischen Genies



 
 
 
 

Er hatte Kassandra gleich nicht gemocht.
Sie wußten beide, daß es Kassandras Bestimmung war, ihm die ganze banale Wahrheit insGesicht zu spucken. Doch sie tat nichts dergleichen. Es hätte auch nichts genützt.
Wem denn?
So aber saßen sie nur unterm Mondlicht und versuchten sich in Telepathie, was gründlich mißlang. Ließen sie also die Beine in den Abgrund baumeln, beobachteten die Gischt, heraufbrandenden Schaum aus dunklem Grund, und dachten aneinander vorbei. Außer der ganzen Wahrheit wußte sie eigentlich nichts von ihm. Das war - zumal am Vorabend ihres sicheren Todes - viel zu wenig. Sie hätte ihm sagen sollen, daß seine Wahrheit eine endlose Kette von Vorabenden war.
Angefangen hatte alles:
Bestimmt hatte alles angefangen. Wissen konnte das niemand. Es war nur die beruhigendste Erklärung. Auch und gerade dafür, daß es eine älteste Erinnerung gab. Aufgewachsen war er unter Schafen und Schweinen, solchen und solchen. Es fiel bald auf, daß er andere Gedanken dachte als die anderen, daß er anders lachte, als sie lachten, und daß er nicht schlief, wenn sie schliefen, sondern herumwanderte und andere Gedanken dachte, als ...- das war nicht schlimm, es störte ja nicht beim Hüten der Schafe und der Schweine. Es nützte natürlich auch nicht dabei. Weil es aber doch zu etwas nütze sein mußte, konnte es sich nur darum handeln, ihn mit den lange genug gehüteten Schafen und Schweinen auf den Markt zu schicken. In der Stadt traf er nach einiger Zeit einen Reisenden, der ihn überredete, mit in sein Land zu kommen. Sein Land war eigentlich auch nur eine Stadt, aber eine sehr große, und der Reisende war ein Hoher Priester, ein Meister mit Namen Marius.
Der Meister war nicht älter als er selbst, so hatten sie eine schöne Zeit in ihrer untergehenden Stadt. Es war ja Krieg. Der Meister starb plötzlich, noch bevor der Krieg aus war. Das Ende des Krieges kam ebenso plötzlich: unversehens drückte unserm Helden ein fremder Recke im Tempel einen Dolch an die Kehle, wie er selbst sonst den Opferlämmern. Früher hatte er an solchen Stellen immer wegsehen wollen. Heute, als Meister, blickte er konsterniert auf sein Gegenüber und fragte sich einmal mehr, wie jemand mit so vielen Pickeln im Gesicht eigentlich Luftwaffengeneral werden konnte. Der Mann hier vor ihm, der Mann, den er jetzt opfern würde, war durch und durch pustelig im Gesicht. Er hatte eine Kindheit lang an Helden geglaubt, er hatte geglaubt, Luftwaffengeneräle seien Helden, und Helden hätten keine Pickel. Er hätte ebensogut glauben können, in einer solchen Situation würde er „erschießen“ denken - und nicht „opfern“.
Indessen erschoß er den General und Heldentum war pickliger denn je. Der General konnte es nicht lassen und versuchte noch im Sterben, sein allenfalls mäßig prominentes Zwei-Personen-Publikum in der Flugzeugkabine mit klassischer Bildung zu beeindrucken: „Auch Sie, Oberst, auch Sie ...?“
Das war’s dann aber auch.
Der picklige General hatte seine Marotten gehabt, zum Beispiel liebte er Privatverhöre. Er, der Oberst, hätte noch mehr Marotten des just Verblichenen aufzählen können, doch zuvörderst befreite er dessen  Gefangenen aus der Umklammerung eines nun wohl nicht mehr benötigten Heldengürtels. Des so Erlösten Gesicht zeigte eine selten - aber doch manchmal - schöne Mischung aus Dankbarkeit, Unglauben, Furcht und anderen in Defoe’s Robinsonade sehr treffend beschriebenen Regungen.  Jedenfalls leuchtete es ein bißchen, als der Redakteur den Dienstreiseauftrag nach Paris bekam.

Das erste, was in Paris in die Augen sticht, ist der die ganze Stadt wie ein ätherischer Hauch durchwirkende, hier kräftig wehende, dort lässig schwebende, sich bald verleugnende und bald zu sichtbarem Quell sich bekennende Gestank. Paris ist eine völlig überlastete Metapher auf Kultur und irgendwas; man könnte ebensogut aufs nächste Klosett rennen, um dort den Kaiser zu fotografieren.

Der ordinäre Paris-Reisende ist in erster Linie Studienrat oder so etwas ähnliches oder auf dem besten Wege, in zweiter Linie natürlich nicht ordinär, sondern höchstens oridinell, und drittens genau so ein Metaphernschänder. Paris ist ein größenwahnsinniger Spatz in der Hand eines Gesinnungsvegetariers.
Paris kann sehr schön sein.
Der Redakteur wird das vielleicht herausfinden, wenn er den Studenten abgeschüttelt hat, der sich auskennt.
„Wenn du schon deine Heimat nicht leiden kannst, warum liebst du dann nicht wenigstens die Fremde, wie es alle machen?“, sagt der Student.
„Heimat“, sagt der Redakteur, „Heimat.“
Er sollte etwas schreiben, man erwartet das von ihm.
Der Redakteur, wie er sich ein weiteres Mal an einem Epos seiner selbst versucht: bei der Arbeit sozusagen. Er nimmt sich heraus, darauf hinzuweisen, indem er an M.C.Eschers Bild der einander zeichnenden Hände erinnert. Ein Hinweis des Veranstalters: dies ist die vollständig in sich selbst zurückgeführte Pirouette, von der die Postmodernisten immerzu redeten.

Zweifler kuriert die Disco:
Jeder füllt sich und seine Nachbarn mit Sinn. Die Bar füllt uns alle. Nur leider nicht mit Sekt oder wenigstens brauchbarem Whisky ... In dem taubstummen Fernseher überm Lärm könnten sie vielleicht eine schöne Olympiaübertragung zeigen, oder ein paar schöne Olympioniken intim rasiert sind sie sowieso alle nur halt aus profan aerodynamischen Erwägungen statt etwa aus erotostatischen oder so denn natürlich ist es schon ein Unterschied ob es ist um womöglich von mir und da und dort lustvoll berührt zu werden oder um selbst noch den Lufthauch reibungsarm abgleiten zu lassen. Es ist trotzdem ein Verlust, ein bedauerlicher, ein Manko gar, wofern wir Ansprüche hier noch statthaft fänden.
Sieh bloß, wie sie tanzen!
Was wirfst du ihnen vor? Daß sie mit wichtiger Miene Sauerkraut stampfen? Alle im gleichen Trog? Tanz war immer schon Verübung gesellschaftlicher Codes, Demonstration von Zugehörigkeit, Identität. Aber die Alten wußten das. Und außerdem: gar nicht immer! Irgendwann werde ich wieder mit Marius auf einer Schuldisco tanzen, seine Augen werden glühen und alle anderen werden starren und verharren, bis er sie - Sekunden, Sekunden - durch einen Blick erlöst und es sogar für sie ein schöner Abend wird. Ganz sicher.
Momentan ist er tot, aber er war nie sehr konsequent in solchen Dingen.
Mein Gott, ist das kitschig! Du magst doch Kitsch. Unbedingt - darum liebe ich auch das oberkitschige Nasengerümpfe darob. Rümpf, rümpf. Danke - mit wem rede ich eigentlich?
Der dort, der da hinten an dem einzelnen Tischchen, der gefällt mir.
Er kann lächeln.
Sein Kuß ist so voll jugendlicher Hingabe, daß es mich mitnimmt. Er saugt sich an mir ins Leben. Vielleicht wirklich - er wäre nicht der erste. Übersteht er es, wird er stark sein. Und traurig.

Was haben wir damit gesagt? Nichts. Gar nichts. Bestenfalls haben wir eine Stimmung erzeugt. Immerhin.Auch der Mathematiker, der einen Beweis führt, kann ja nichts anderes hoffen, als in seinen Zuhörern eine Stimmung zu erzeugen. Das gute Gefühl, das uns befällt, wenn Rädchen munter ineinandergreifen, wenn ein Puzzle paßt.
Es folgt noch ein bißchenWeltgeschichte, nicht sehr märchenhaft. Am Ende ist der Redakteur allein. Seitdem ist er ein Ungeheuer und lebt in einer Felshöhle auf einer Klippe. Alle Menschen sind tot und intelligente Krabben zivilieren in der Gegend herum. Der Redakteur hört freilich nicht auf, Krabben zu essen. Die finden das ungeheuerlich. Aber sie sind klein und noch nicht sehr aufgeklärt. Also opfern sie ihm jeden Monat eine Krabbenprinzessin.

„Glaubst du anSchicksal, Prinzessin?“
„Ja“, haucht es neben ihm, dann bangsam „Und du?“
„Ich nicht, nein. Was hätte es davon?“
Der Redakteur läßt die Beine in den Abgrund baumeln, beobachtet die Gischt, heraufbrandenden Schaum aus dunklem Grund. Was das bedeutet? Nichts. Gar nichts. Sonst würde ich es doch nicht erzählen.  Schließlich bin ich nichtSokrates: ich sage, daß ich nichts sage.



irgendwann 1997
marvinius.de