- ein etwas zeitraubendesMärchen
nach den Aufzeichnungeneines
metazyklischen Genies
Angefangen hatte alles:Er hatte Kassandra gleich nicht gemocht.
Sie wußten beide, daß es Kassandras Bestimmung war, ihm die ganze banale Wahrheit insGesicht zu spucken. Doch sie tat nichts dergleichen. Es hätte auch nichts genützt.
Wem denn?
So aber saßen sie nur unterm Mondlicht und versuchten sich in Telepathie, was gründlich mißlang. Ließen sie also die Beine in den Abgrund baumeln, beobachteten die Gischt, heraufbrandenden Schaum aus dunklem Grund, und dachten aneinander vorbei. Außer der ganzen Wahrheit wußte sie eigentlich nichts von ihm. Das war - zumal am Vorabend ihres sicheren Todes - viel zu wenig. Sie hätte ihm sagen sollen, daß seine Wahrheit eine endlose Kette von Vorabenden war.
Das erste, was in Paris in die Augen sticht, ist der die ganze Stadt wie ein ätherischer Hauch durchwirkende, hier kräftig wehende, dort lässig schwebende, sich bald verleugnende und bald zu sichtbarem Quell sich bekennende Gestank. Paris ist eine völlig überlastete Metapher auf Kultur und irgendwas; man könnte ebensogut aufs nächste Klosett rennen, um dort den Kaiser zu fotografieren.
Der ordinäre Paris-Reisende ist in erster Linie Studienrat oder so etwas ähnliches oder auf dem besten Wege, in zweiter Linie natürlich nicht ordinär, sondern höchstens oridinell, und drittens genau so ein Metaphernschänder. Paris ist ein größenwahnsinniger Spatz in der Hand eines Gesinnungsvegetariers.
Paris kann sehr schön sein.
Der Redakteur wird das vielleicht herausfinden, wenn er den Studenten abgeschüttelt hat, der sich auskennt.
„Wenn du schon deine Heimat nicht leiden kannst, warum liebst du dann nicht wenigstens die Fremde, wie es alle machen?“, sagt der Student.
„Heimat“, sagt der Redakteur, „Heimat.“
Er sollte etwas schreiben, man erwartet das von ihm.
Der Redakteur, wie er sich ein weiteres Mal an einem Epos seiner selbst versucht: bei der Arbeit sozusagen. Er nimmt sich heraus, darauf hinzuweisen, indem er an M.C.Eschers Bild der einander zeichnenden Hände erinnert. Ein Hinweis des Veranstalters: dies ist die vollständig in sich selbst zurückgeführte Pirouette, von der die Postmodernisten immerzu redeten.
Zweifler kuriert die Disco:
Jeder füllt sich und seine Nachbarn mit Sinn. Die Bar füllt uns alle. Nur leider nicht mit Sekt oder wenigstens brauchbarem Whisky ... In dem taubstummen Fernseher überm Lärm könnten sie vielleicht eine schöne Olympiaübertragung zeigen, oder ein paar schöne Olympioniken intim rasiert sind sie sowieso alle nur halt aus profan aerodynamischen Erwägungen statt etwa aus erotostatischen oder so denn natürlich ist es schon ein Unterschied ob es ist um womöglich von mir und da und dort lustvoll berührt zu werden oder um selbst noch den Lufthauch reibungsarm abgleiten zu lassen. Es ist trotzdem ein Verlust, ein bedauerlicher, ein Manko gar, wofern wir Ansprüche hier noch statthaft fänden.
Sieh bloß, wie sie tanzen!
Was wirfst du ihnen vor? Daß sie mit wichtiger Miene Sauerkraut stampfen? Alle im gleichen Trog? Tanz war immer schon Verübung gesellschaftlicher Codes, Demonstration von Zugehörigkeit, Identität. Aber die Alten wußten das. Und außerdem: gar nicht immer! Irgendwann werde ich wieder mit Marius auf einer Schuldisco tanzen, seine Augen werden glühen und alle anderen werden starren und verharren, bis er sie - Sekunden, Sekunden - durch einen Blick erlöst und es sogar für sie ein schöner Abend wird. Ganz sicher.
Momentan ist er tot, aber er war nie sehr konsequent in solchen Dingen.
Mein Gott, ist das kitschig! Du magst doch Kitsch. Unbedingt - darum liebe ich auch das oberkitschige Nasengerümpfe darob. Rümpf, rümpf. Danke - mit wem rede ich eigentlich?
Der dort, der da hinten an dem einzelnen Tischchen, der gefällt mir.
Er kann lächeln.
Sein Kuß ist so voll jugendlicher Hingabe, daß es mich mitnimmt. Er saugt sich an mir ins Leben. Vielleicht wirklich - er wäre nicht der erste. Übersteht er es, wird er stark sein. Und traurig.
Was haben wir damit gesagt? Nichts. Gar nichts. Bestenfalls haben wir eine Stimmung erzeugt. Immerhin.Auch der Mathematiker, der einen Beweis führt, kann ja nichts anderes hoffen, als in seinen Zuhörern eine Stimmung zu erzeugen. Das gute Gefühl, das uns befällt, wenn Rädchen munter ineinandergreifen, wenn ein Puzzle paßt.
Es folgt noch ein bißchenWeltgeschichte, nicht sehr märchenhaft. Am Ende ist der Redakteur allein. Seitdem ist er ein Ungeheuer und lebt in einer Felshöhle auf einer Klippe. Alle Menschen sind tot und intelligente Krabben zivilieren in der Gegend herum. Der Redakteur hört freilich nicht auf, Krabben zu essen. Die finden das ungeheuerlich. Aber sie sind klein und noch nicht sehr aufgeklärt. Also opfern sie ihm jeden Monat eine Krabbenprinzessin.
„Glaubst du anSchicksal, Prinzessin?“
„Ja“, haucht es neben ihm, dann bangsam „Und du?“
„Ich nicht, nein. Was hätte es davon?“
Der Redakteur läßt die Beine in den Abgrund baumeln, beobachtet die Gischt, heraufbrandenden Schaum aus dunklem Grund. Was das bedeutet? Nichts. Gar nichts. Sonst würde ich es doch nicht erzählen. Schließlich bin ich nichtSokrates: ich sage, daß ich nichts sage.