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PITTIPLATSCH ON TOUR:
Eine Bekenntnis-Satire

oder: ein Kitschroman in
 Schlüsselszenen

oder:

„Scheiße!“
Der Redakteur ist außer sich.
Indem er sich den Schmutz von der Jacke wischt und ausdem Gesicht, gewinnt er mählich wieder Haltung. Dann betrachtet erfast interessiert für zwei Momente die zuckende, blutige Hand, diezu seinen Füßen aus den Trümmern des Flugzeugs ragt. „Scheiße!“,ruft er noch einmal, gepreßt und leiser nun, nach einem Rundblickauf vielleicht vier Hektar Inferno. Eine Weile steht er aufrecht-unentschlossen,bis sich von ferne eine Blaulichtkolonne bedeutungsschwer heranwindet.Schon regt er sich rasch, erwachend wie aus Andacht. Immerhin hatte ernicht aus touristischem Übermut die Luftlinie gewählt, sondernmit Sehnsucht im Herzen und Eile im Aug'. Noch einmal schaut er sich prüfendum, doch es bleibt bei dem gelegenen Befund: hier ist's am Ende, kein Lebenglimmt mehr, keine Pflicht mehr redet sich ihm ein. Der Redakteur birgtseine kräftigen Finger in den Hosentaschen, als er merkt, wie empfindlichkalt es trotz der zwischen den Wrackteilen lodernden Flammen doch ist.Januar. Hier und da Leiber. Mögen die Schmetterlinge1)fluchen. Ruhig geht er auf den Haufen hektisch herumrollender Dienstfahrzeugezu. Aus deren Reigen kristallisiert sich unterdessen ein einsatzleitendesheraus und der Redakteur wendet sich dorthin.
„Ich will nach Berlin-Tegel.“, spricht er den bis zurvölligen Verstörung auf sein Funkgerät konzentrierten Uniformträgeran, „Hier ist mein Ticket.“ Der brave Beamte läßt sich nichtbeirren, sondern plappert unverdrossen aufgeregt ins Kästchen. DieMelodie verrät dem Redakteur, daß sein Airbus in Holland zerschelltist und er es noch weit hat.
 

Stell dir vor, es ist Steinzeit, und es treffen sich zweiVampire in Baalbek... Ach so, ja, äh, das klingt natürlich bißchenkomisch. Soll ja auch 'ne witzige Story werden. Aber vorher muß ichwohl erklären, wie das mit den Vampiren ist, in der Steinzeit. Naja,also, war'n an sich erstma' nich' irgendwelche Wunderwesen oder so, sonderneinfach 'ne intelligente Art, die's schon lange vor  uns Menschengegeben hat. Paar Millionen Jahre. Als wir Steinzeit hatten, war'n diealso schon unheimlich weit inner Wissenschaft, Technik, Philosophie undso. Oder wart' mal... nee, ... doch, so war das, glaub' ich. Ja, aber hatihnen alles nix genützt. Sie wurden immer weniger; Genetik und so.Jedenfalls war'n das inner Steinzeit bloß noch 'n paar tausend Stück,aber die hatten alle unheimlich was drauf. Bloß, daß sie 'nbißchen klein geraten war'n, da haben dann die Steinzeitmenschenimmer wieder mal draufgehaun. Nee, nich wie auf die Vietnams, die wehrnsich ja manchmal. Jedenfalls wurden das wegen die Urmenschen ihre typischeBrutalität noch weniger Vampire. Ich mein, davon hätte jederlocker 'ne ganze Horde Urmenschen fertigmachen können, bei die ihreTechnik, ne. Aber die warn da komisch, mit ihre Ethik, weilse doch gemerkthaben, daß die Urmenschen 'ne junge, aufstrebende Intelligenz warn,wiede an meine Person leicht ablesen kannst, und wegen ihre Ethik, vastehste?Macht nix, ich auch nich. Nu hatten die also beschlossen, geordnet auszusterben,also so, daß sie zwar immer weniger wer'n, nu mit Absicht, aber daßdie, die noch da sind, immer mächtiger werden. Jede neue GenerationVampire sollte 'n gutes Stück weniger Leute haben als die vorige,aber auch viel länger leben und haufenweise Extrawürste, alsoalle möglichen Fähigkeiten entwickeln. Das ganze Projekt hießDRACULA - merkste was? - und am Schluß von det Ding sollte ein einzigerVampir rauskommen, wenn man das dann noch so nennen kann, also der Vampiran sich, sozusagen. Der sollte dann nich' nur allet mögliche draufhaben, vor allem sollte der unsterblich sein und wie'n Mensch ausseh'n.Lach nich. Jetze noch nich, du; kommt ja allet erst noch.
So, und nu stell dir vor, es ist Steinzeit, und es treffensich zwei Vampire in Baalbek. Sagt der eine:
„Bist du aufgeregt?“
„Ja, sicher. Das PROJEKT hat begonnen.“
„Du klingst nicht sehr bewegt.“
„Sollte ich? Kann schon sein, aber ich frag' mich wiedermal,wozu ich eigentlich da bin.“
„Ah ja, der Sinn des Lebens. Nun, du trägst zumGelingen des PROJEKTES bei.“
„Ich gehöre genausowenig wie du zu den Ausgewählten,DIE DURCH DIE ZEIT GEHEN.“
„Trotzdem. Wir sichern den Hintergrund mit ab. Noch istdas PROJEKT verwundbar.“
„Das soll mein Lebenssinn sein? Das PROJEKT? Da hastdu das Problem wieder, bloß nochmal verpackt. Das ist es ja: Wennich außerhalb des PROJEKTES keinen Sinn habe, welchen Sinnhat dann das PROJEKT?“
„Die Art zu erhalten, sie zu transzendieren.“
„Und wozu soll das gut sein? Weißt du, was diein der Prägung immer sagen, daß der Begriff des Sinnes nichtauf die Kategorie 'Leben' anwendbar sei, das kann ich ja denken, obschonnicht meinem Empfinden beibiegen. Ich kann mich also damit abfinden, daßes sinnlos sein soll, nach dem Sinn meines Lebens zu fahnden. Doch warumsoll, was für dich und mich als Individuen gilt, für die Artnicht gelten? Und um deinen dialektischen Verdrehungen zuvorzukommen: nochverwirrender ist doch, daß letztlich ein einzelnes Wesen - im Ergebnisdes PROJEKTES - die Art fortsetzen soll. Hat dann dessen Leben einen Sinn?Den Sinn der Art, den angeblich dialektisch von Quantität -ha, kaummehr der Rede wert- zu Qualität gehüpften? Oder einen eigenen?Oder spinnen die Denker des Projektes DRACULA?“
„Jetzt weiß ich wenigstens, warum du nicht ausgewähltwurdest, obgleich du bestimmt überdurchschnittlich begabt bist. Dubist ein Defätist.“
„Ich beneide die nicht, DIE DURCH DIE ZEIT GEHEN. Aberich werde trotzdem dabei sein, beim PROJEKT, verlaß dich drauf, aufdie eine oder andre Weise. Zweifel entstehen immer, auch bei denen, DIEDURCH DIE ZEIT GEHEN. Wir sind überall.“
Mist, jetzt hab' ich die Pointe vergessen. Ich mein',das war ja schon witzig, haha, „Wir sind überall!“, hihi, die Stasi-Hymneschon in der Steinzeit. Aber das ging noch irgendwie weiter, warte mal...
 

Vor einer Parkbank läuft ein alter Mann mit dickerBrille, grauem Mantel, grauem Haar sabbernd hin und her.
„Wo kämen wir da hin?“, fragt der alte Mann immerzukopfschüttelnd. Der Redakteur blickt auf seine Schuhspitzen. Plötzlichlegt sich eine Hand schwer auf seine linke Schulter. Er dreht sich um undsieht in ein breites, fanatisches Gesicht.
„Ich hab' dich aus dem Wrack kommen sehen. Du bist derVorletzte!“, droht der Fremde, „Dann noch den Highlander - es kann nureinen geben. Mich!“ Dabei hebt er mit beiden Armen ein riesiges Schwertund zielt auf den Hals des Redakteurs. Zwei Zehntelsekunden späterwischt sich der Redakteur das Blut von den Lippen und überlegt, woer den Kopf des Hünen hinstecken soll. Der Alte ist verschwunden.
 

Der Redakteur hatte gewartet und Ausschau gehalten, dochim Grunde wußte er, daß er die Prinzessin nicht mehr sehenwürde. Ihr Flugzeug würde hier ankommen, wenn seines auch ankam- aber ganz woanders. Nun, er würde iihr schreiben, gewiß.
Betrübt und ergeben trottet er vom Ankunfts- zumAbflugterminal. Paßkontrolle am Rande, Zollkontrolle drollig. Beamterbetrachtet, beschließt Bewegung, betastet. Redakteur abwesend, Beamterunfroh: keine Bombe im Portemonnaie. Beamter bemerkt Beule in Jacke. Redakteuröffnet folgsam die Tasche. Beamter läßt sich Feuerzeugvorführen. Redakteur wartet. Beamter blickt barsch auf Restbeule.Redakteur fördert zwei Kondome zutage. Beamter stutzt. Redakteur kramtdas Gleitgel hervor. Beule beseitigt. Beamter grinst überlegen anzüglich.Der Redakteur strahlt ihn an. Kontrollator transpiriert unversehens unsicher.
'Er wird nachher seine Brille putzen müssen', denktder Redakteur, packt ein und geht versunken lächelnd weiter. Einsteigen,Stewardessenmünder grellrot und lau gekrümmt, Start. Abhebenist so 'ne Sache; macht er sonst lieber bei der Bank. Luftpost, Luftdruck,Lufthansa, Luftikus, Luftkissen als Brötchen; die unvermeidliche Blondineträgt's mit Fassung wieder fort.
Der Redakteur langweilt sich und beschließt, nunendlich das Amtliche zu lesen, das seit zwei Wochen in der Brusttascheknistert. Ein Gericht hält sich ihm vor. Er, der Redakteur, hättegeschrieben, empört es sich. Man lebe aber in einem freiheitlichenRechtsstaat. Der Redakteur muß wohl daran glauben, schreibt man ihm,widrigenfalls er in Verhaft genommen und gebessert würde.
Aus der Pilotenkabine zieht es entsetzlich, die Stewardessenlächeln professionell entschuldigend. Etwas beunruhigt beobachtetder Redakteur zwei Männer im Lufthansadreß, die zügig ausdem Blickfeld seines Fensters purzeln. Ein Junge setzt sich auf den freienPlatz neben dem Redakteur. Er ist achtzehn oder neunzehn, hübsch,war bis eben nirgends und trägt Shorts plus T-Shirt.
„Du bist der Redakteur, stimmt's?“, fragt er.
„Ja.“, sagt der Redakteur und ist stolz auf seine Ehrlichkeit.
„Bist du gesund? Glücklich? Verliebt?“, möchteder Junge wissen.
'Der ist nicht aus der Welt', denkt der Redakteur daroberstaunt.
„Nicht mehr...“, haucht der andere, senkt die Augen undlächelt dabei traurig, so sacht, daß dahinter eine ungeheureWehmut sich verbergen muß, ein großer Schmerz, der sich erlösenderBitterkeit verweigert.
„Man darf ja die Traurigkeit, die tief ist und unheilbar,nicht mit Trübsinn verwechseln. Trauer verflacht im Trübsinn.Elend geht sie daran zugrunde, und wir sterben mit ihr, oder doch unsereEmpfindsamkeit. Widerstehen wir dem, so kann - vielleicht, vielleicht -unsere Traurigkeit den Grund bilden, den schwarzen, reichen, auf dem neuesLeben wächst. 'Leben heißt leiden', ist ja auch kein freudloserSatz, sondern die geistige Fallgrube bei Nietzsche, in der sich all jenesammeln, die gar nicht leben wollen, sondern nur ihr Dasein schmerzlosabsolvieren. Wer kein Leben versucht, hat aber auch keinen Tod.“
So sprach der Redakteur - oder hatte er es nur gedacht?Der Junge aber lächelte noch immer, blickte nun den Redakteur an undschwieg. Als die Triebwerke zu husten begannen, schließlich verloschen,legte der Junge dem Redakteur die Hand auf die Brust und bat leise: „Grüßdeinen Feind von mir; es ist das Zeichen, das er braucht.“
Dann verschwand er so unvermittelt, wie er gekommen war.Der Redakteur hörte jetzt erst das Lärmen und Kreischen ringsum.Gleichzeitig sah er, wie eine Stewardeß aschfahlen Gesichts, abermit kernigroten Lippen, die Schwimmwesten erläuterte, und wie derwinterlich weißgefleckte Boden rasant heranrückte.
 

Gold und Geschmeide prangten von allen Wagen, die zahlreichsich durch die prachtvoll geschmückten Tore in die Hauptstadt drängten.Alles Volk war in freudiger Bewegung. Die Edlen übten sich im brüderlichenKampfe, mit ihren Siegen den Unbezwinglichen zu preisen. Die Gelehrtendisputierten ehrerbietig und versicherten alle Welt ihrer untertänigenHoffnung, nun bald vom Höchsten, vom Weisesten eine Geste, ein Wortgar, zu ihrer Unterrichtung und dankbaren Ausdeutung zu erhaschen. EinfacheLeute jubelten überall, auf den Plätzen tanzten die Frauen, derBasar floß schier über vor Köstlichkeiten und der Handelflorierte: zum Ruhme des allergütigsten Herrschers, zur Blüteseines gewaltigen Reiches beizutragen. In allen Gassen funkelte und blitztees nur so, daß es ein Entzücken war. Es leuchteten die Blickeder Mädchen wie Sterne, die samtenen Augen der Knaben glommen unergründlich.Schon seit Wochen kamen unablässig Karawanen demütiger Untertanenaus allen Provinzen des Reiches, hochedle Fürsten darunter, die ihreSchätze wie ihr Leben dem Sonnengleichen zum Geschenk machen wollten.Heute nun sollte es soweit sein. Freudige Erregung in allen Gesichternund ... äh, Herzen. Den ganzen Tag schon labten die Diener des anbetungswürdigenGroßkönigs das gemeine Volk in den Straßen mit den erlesenstenSüßigkeiten, die Gefängnisse wurden geleert und die Verurteiltenan mehreren Plätzen öffentlich hingerichtet. Doch an solchemTag war großzügig selbst der starke Arm des Henkers: hatte dasVolk Mitleid mit einem schönen Jüngling und seufzte vernehmlich,so schlug der Scharfrichter ihm nicht den Kopf ab, sondern ließ zuweileneinen laufen. Die so Geretteten fielen augenblicklich auf die Knie, priesendie unendliche Gnade des Großkönigs - möge er noch vieleherrliche Geburtstage feiern zur übergroßen Freude seines ergebenenVolkes -, und schworen auf ewig Tugendhaftigkeit.
Dann war es endlich soweit: der Herrscher selbst würdesich seinen Untertanen zeigen. Die Sonne strahlte bereits in feierlichemRot vom Horizonte, das Volk drängte sich vor der gewaltigen Empore,die gesäumt war von Kaskaden kostbarster Edelsteine, gefaßtin pures Gold. Hunderte riesengroße Sklaven bildeten das Spalier,durch das der Großkönig schreiten würde, anmutige Tänzerinnenbestreuten seinen Weg mit Blumen und Juwelen. Da! Schon wichen die schönenSklavinnen zur Seite, die ersten Hofleute nahten sich, die Spitze des Zuges,dessen Krönung der Allgütige selbst sein würde. Breiterwurde der Zug, die Posaunen kündeten immer lauter und heller, dieJubelschreie des Volkes brandeten zu höllischem Getöse auf, schonglaubten einige, den unvergleichlichen Schimmer SEINES Gewandes erblicktzu haben --
- „Aus!“, ruft der Redakteur, „Klappe!“
Luzifer blinzelt irritiert und läßt sein Whiskyglasfallen.
 

Der Redakteur hat den Park verlassen und sucht wiedereinmal in seinem Leben einen Bahnhof, der den Namen verdient. Dabei kannihm niemand helfen. Die Umgebung wird, was sie ist: ein Sammelsurium vongrauen Punkten, wie sie zwischen schwarzen Quadraten entstehen; doch ohnediese hier. Ausgerissene graue Punkte: alles kommt ihm bekannt vor, dochsieht er eines an, löst es sich auf oder wird gänzlich unbekannt.Gar keine schwarzen Quadrate, merkt er nach einiger Zeit, nein, Menschenstatt dessen. Denn nun sind sie da. Plötzlich war er neben ihnen.In langer Reihe stehen sie, kein Ende abzusehen nach hinten, kein Zielnach vorn. Sie stehen nicht säuberlich hintereinander, sondern wieein hier und da zur Traube sich weitender Schlauch von Wartenden vorm Theater.Ein Zug scheinbar von Horizont zu Horizont, und nur langsam geht es voran;einige drängeln drinnen. Der Redakteur weiß mal wieder nicht,ob er froh sein darf, von jeher nicht dazuzugehören. Er geht seineeigenen Wege, will er denken, erschrickt dabei und weiß, daßes nicht stimmt: Neugier ist auch ein Zwang.
An den Seiten patrouillieren Päpste und Polizisten.Irgend so ein heiliger Oberleutnant blickt begehrlich am Redakteur raufund runter. Keine Zeit, keine Zeit. Außerhalb der Zeit. Er mußerst wieder an die Gegenwart gelangen, merkt der Redakteur und schreitetweiter aus. Viele, viele Schritte muß er tun. Muß vieles sehen,oft mit halbem Blicke nur.
Da endlich ist ein Ziel in Sicht: einen Hügel geht'shinan, darauf befestigt eine steinerne Figur. Noch ist es weit, doch beschleunigtschon die Neugier seinen Schritt, als er gewahr wird, wie sie alle offenbarnur anstehen, um dort vor der Figur das Knie zu beugen und den Kopf, woraufsie hinterm Hügel bald verschwinden. Im Näherkommen fühltder Redakteur nun immer stärker einen Blick auf sich gerichtet, drehtsich suchend hierhin, dorthin, bis er merkt, daß es die Figur ist,die ihn fixiert. Er braucht eine Weile, den zu erkennen, den er zuletztam Kreuz gesehn - und nun in Stein. In diesen Augen liegt Zorn und Hilflosigkeitund immer noch Erwartung. „Sieh mich an“, scheinen sie zu sagen, „und siehdich um! Sieh genau hin!“ Der Redakteur, der herangekommen ist, sieht dieAngestandenen, die hier ihre Kniefallübungen absolvieren, eine sakraleGymnastik. Die Figur hat die Hand segnend erhoben über jener Stelle,an der sie sich schakalhaft krümmen, doch der Redakteur erkennt jetztauch den Sinn des Gesteins: der da drinnen kann die Hand nicht senken,nicht abwenden, nicht gebrauchen gegen die sich leichthin Beugenden; siehaben ihn eingefaßt in wohlgeschliffene Härte, und nun mußer sie unablässig segnen.
Manchmal fangen die gespenstischen Kreuzeshäschereinen Wilden, kräftige Burschen zumeist, die sie mit Tücke undBrutalität knebeln, oder einen Ausreißer aus dem Strom. Solche,die die Augen gesehen haben. Die werden dann niedergeworfen unter den zwanghaftsegnenden Arm, und mit dem Kopf so lange zum Kuß auf die Füßedes selbstgebastelten Götzen geworfen, bis aus dem vorher frevelndvom Sehen kündenden Mund kein Schrei mehr quillt - nur noch Blut.
Dann wieder kommen solche, die darum anstehen, weil'sso viele tun, die im Strom sich irgendwann fanden, ohne es zu merken oderfür bemerkenswert zu halten. Die schnippisch-ahnungslos lächelnund über die Blutspur, über Zähne, Knochen und Fleisch derGemarterten, den Blick aufs Monument geheftet, die Treppe zum Schauspielerklimmen: gewissenhaft zeremoniell, doch ohne Begriff. Und auch die, derenheimlich oder unheimlich wissendes Lachen den Stein härtet, währendsie sich in der höhnisch überzogenen Gebärde tiefster Demutauf den Boden werfen, an der Spitze der Treppe, zu Füßen ihresGefangenen. Die lustvoll das Blut lecken, das die Schafsaugen der eitlenUnkinder peinlichst übersehen. Ob das die Herren des Zuges sind, fragtsich der Redakteur, einen Moment zur Achtung bereit, und ob er mit diesenreden müßte. Doch ihre Welt ist fertig, mögen sie darinHerren sein oder Funktionäre. So schaut er wieder auf die Augen desunsterblich Versteinerten, die ununterbrochenen Todeskampf spiegeln: denKampf mit den gedankenlosen wie den sicheren Blicken.
„So ergeht es dir, wenn du dich mit ihnen einläßt.“,sagen die Augen zum Redakteur.
„Warum tust du es dann?“, denkt der Redakteur, „Sollich dir helfen? Vielleicht reicht meine Kraft, den Marmor zu zerkrümeln.“
„Ganze Arbeit.“, sagt Luzifer, der plötzlich miteinem neuen Glas in der Hand und mit Tränen im Gesicht auftaucht.
„Ja“, gestehen die Augen des Gekreuzigten, „es ist meinLeib.“
„Was denn“, der Redakteur glaubt es nicht, „nur nochdie Augen ...?“
„Es kommen andere...“, bedeutet der Blick des in MarmorAufgelösten und geht in die Ferne, dorthin, wo der Fluß derbeliebigen Leiber entspringt.
„Nein!“, will der Redakteur ihm zurufen, „Glaub dochdas nicht! Sie sind alle so! Ich komme doch von dort, ich hab' sie nahgesehn!“ Doch er bringt es nicht heraus. Luzifer zieht ihn sanft beiseite.Gemeinsam schweigen sie ein Stück. Dann trennen sich auch ihre Wege:der Redakteur steigt in den Zug nach Frankfurt.
 

Nee, also komisch, wie dat weiterging mit die lustigeStory vonne Vampire und so hab ich jetze echt vergessen, also den Witz,mein ich. Was das nu mit dem Blutsaugen und so auf sich hat, was wir soaus'm Märchenbuch kennen, willste wissen, ja? Also, ich kann dir auchbloß sagen, was mir so'n Typ mal erzählt hat, der war totalfertig, hat bloß noch so vor sich hin geredet und nich mehr vielgemerkt, glaub ich. Na jedenfalls mit dem Blut, das is einfach, weil dairgendwas drin is, was den Vampiren, die ihr Teil geschafft haben, also... äh ... sich fortgepflanzt haben und nun irgendwann sterben müssen,was denen die Schmerzen nimmt. Eigentlich, hast ja recht, wollten die sichaber gar nich an de Menschen vergreifen. Aber da is überhaupt einigesschiefgelaufen, hat der Typ gesagt, bei dem Projekt. Inzwischen soll nämlichdas Ding fertig sein, also der allerletzte Vampir, aber zwischendurch habenwelche von denen, DIE DURCH DIE ZEIT GEHEN irgendwie gemeutert oder so.Äh, spendierste mir noch 'n Korn? Ja? Okay. Jedenfalls is der, dernu rumläuft gar nich so perfekt wie geplant, sondern voller Macken.Aber kreuzgefährlich, sag ich dir! Die haben ja wohl 'n irre gutesGebiß und...  Danke für'n Schnarrrps, Fräulein, unddir auch fürs Ausgeben. Prost!
 

Von Frankfurt, wo er ein bißchen mit dem Personalzu kämpfen hatte, das ihm seinen Anschlußflug nicht so einfachgewähren wollte, sondern nur immerzu wie närrisch auf sein altesTicket starrte, war es letztlich nur noch ein Luftsprung bis nach Tegel.Dem Redakteur war so langsam auch danach zumute.
Ankunft, Aussteigen, schon wieder Stewardessen. 'Wartetnur, balde...', denkt es im Redakteur hämisch. Zur Strafe wartet erzwei bis drei Ewigkeiten auf sein Gepäck, eh' ihm einfällt, daßsich das wohl auf holländischen Schneewiesen tummelt. Sowas auch!
Dabei hatte sich bei allem dennoch sein Empfinden fürganz kleine, skurrile Zauberhaftigkeiten der Existenz bewahrt, schien ihm.Im Zug zum Beispiel, von irgendwo nach Frankfurt, setzt sich einer ihmgegenüber. Zum Träumen schön. Und so kluge Augen. Ein leichtesLächeln, das die Freude am Leben gegen all das bessere Wissen undgegen die Traurigkeit bewahrt, die sich in den ruhigen, klaren Augen spiegeln.Anschauen, angeschaut werden. Kaum eine Silbe. So siehst du auf mich mitdeinen schönen Augen und weißt nicht recht. Du bist beunruhigt,etwas klingt in dir, vielleicht ahnst du etwas, doch du erkennst mich nicht.Dich wird man immer erkennen, mein armer Freund. Eine Stunde Fahrt, Gepäck,Gleise, Reisende, dann Aufstehen. „Tschüß.“ - „Tschüß.“

Der Redakteur findet einen Zettel unter seinem Sitz, einloses, vergilbtes, vormals eilig bekritzeltes Blatt:

MONOLOG EINES INNEREN UND ÄUSSEREN SCHWEINEHUNDES
MIT SEINEM ILLUSIONSLOSEN SCHUTZENGEL

- „Ich werde die Welt verändern.“
* „Du wirst was wirst du? Du hast nichtmal mehr dieKraft zu beschließen. Du hast nichtmal mehr die Kraft, nach dem AbwaschFrühsport zu beschließen. Du wirst was wirst du?“
- „Ich werde die Welt bedrücken.“
* „Und die Welt nimmt es nicht zur Kenntnis. Das hattenwir doch schon. Bedrücken wirst du immer, immer nur dich selbst. DieWelt ist da nur ein Spiegel. Deine Welt ist dein Spiegel.“
- „Ja.“
* „Das kannst du so nicht stehenlassen.“
„Im Zug sitzend, die Welt draußen, die etwasländliche Gegend beobachtend, die wohl schon hier und da vom Graudes Fortschritts berührt, doch ihrer eigenen Vergangenheit noch ähnlichsein könnte, ist der eigenartigste, berührendste Gedanke, dermir kommt, ein bedrückender, zorniger, wohl auch verzweifelter undhoffnungsloser. Wie viele Menschen - oh, dieses große, oft mißbrauchteWort! - wie viele Menschen, die zu lieben sich vielleicht lohnte, mögenauf diesen ach so friedvollen paar Quadratkilometern Erde getötet,geschunden und zerbrochen worden sein? Wie viele... ist diese Frage nichtschon Anzeichen einer furchtbaren Kälte in uns, vor der nichts indieser Welt uns schützt und die wir mit egozentrischem Zynismus nurstellenweise und nicht auf lange aus unserem Innersten ausgrenzen können?
Wie viele ...: als ob nicht ein einziger übergenugwäre zur Verzweiflung, zum Haß; Grund genug, über die eitleTierart das einzig mögliche Urteil zu sprechen, endlich einen jenerbewußten roten Knöpfe zu drücken, mit dem verzweifeltenSchrei nach Gerechtigkeit die Apokalypse zu ersehnen, das jüngsteGericht ... furchtsam ahnend, daß Recht auch dort nicht sein wird.
Ein Bild drängt sich in die grüngraue Idylle.Es ist unwahrscheinlich - heute würde man sagen: ziemlich - grausamund unvorstellbar - ist es leider eben nicht, nein, es ist sogar sehr,viel zu vorstellbar. Es ist so schlüssig vorstellbar, daß esdie zaghafte Einbringung, es möge sich doch um kein Symbol, sonderneine Entgleisung handeln, restlos zertrümmert.
Da ist, sagen wir mal, ein ... Mensch: Kind nichtmehr, und noch nicht erwachsen, noch nicht vom Joch des halbblinden Irrsinnsseiner Art gebeugt. Dort steht eine - nicht die, sondern eine - Inkarnationvon Jugend, kraftvoller Schönheit, ungebrochener Weisheit  -kurz: des Guten, wie es wohl nur dem noch wahr sein kann, der einen sehrausgeprägten, sehr hoffnungsvollen Glauben besitzt ... oder einmalbesessen hat.“
-- Der Redakteur denkt an den Gast im Flugzeug. --
„Und schon liegt er auf dem Richtblock der Üblichenund ist in seiner gutmütigen Naivität noch nicht einmal imstande,Ekel oder auch nur Angst zu empfinden vor der gaffenden Menge ringsum.Mich würgt eine eisige Wut beim Anblick all dieser ... Bürger,die schon gierig geifern in wollüstiger Erwartung der Henkerstat,die ihnen die für sie unfaßbare Reinheit besudeln, brechen,töten, zu ihnen herabziehen soll. Was werden sie tun? Kopf ab? Handab? Fuß ab? Mein Herz krampft sich zusammen, will sich - steinhartgeworden mittlerweile - zwischen Henkerbeil und den endlich gefundenenMENSCHEN werfen. Doch sosehr es auch die Kraft gehabt hätte, der Gewaltdes Mordwerkzeuges zu widerstehen, es vereist und zersplittert, als dieschreckliche Axt unter dem widerlichen Gejohle der Menge in den bebendenLeib fährt. Wie unbeschreiblich ist da wütende Verzweiflung,als ich die Qual auf diesem Gesicht sehe, und ich weiß, daßdurch seine blutenden Wunden nun auch die Keime der verderblichsten allerKrankheiten eindringen werden: die Erreger von Haß, Verzweiflung,Bitternis, später auch von Neid und Mißgunst gegen jene, dienoch ganz am Leben sind, bereit zu leben, geliebt zu werden und fähigzu leben wie zu lieben, nicht zu vegetieren. Was kommt, ist Siechtum, Angleichungan die Mörder, die auch Opfer jener Kontinuität sind.“
-- Womit sich übrigens die Einteilung auflöst,es nur noch Mitspieler gibt, mein Bester, denkt es im Redakteur. --
„Und was wird mit mir? Was bleibt, ist der entsetzlicheHaß auf diese Menschheit, die jedwedes Grauen wahrscheinlich erscheinenläßt. Wäre ich zur Konsequenz imstande, müßteich deren Vernichtung anstreben. Doch da ist dieses kleine bißchenWahrscheinlichkeit, für Hoffnung, für Glauben gar, ist es zuwenig, doch die Möglichkeit zur Besserung, zur Menschwerdung, so geringsie sein mag - sie könnte bestehen. Mit dem Planetozid dieses verdorbenenVersuches bestünde sie nicht mehr.
Und doch ... vielleicht würde Raum für edlere,freiere Wesen. Katzen meinethalben. Vielleicht sollten wir Platz machenfür intelligente Krebse oder wahrhaft humane Schildkröten. VomMenschen ist außer fortwährend gesteigertem Grauen nichts mehrzu erwarten. Kein Leben, keine Liebe.“

Der Redakteur steigt aus und umarmt lachend den Gegenbeweis.

„Vielleicht“, sagt Iehova.
„Himmel hilf!“, sagt Luzifer.
„Platschquatsch.“, sagt der Redakteur.

                                               (marvinius.de , irgendwann 1994)
 
 

1) Wir erlauben uns anzumerken, daß Schmetterlingeim Januar durchaus als ungewöhnliche Erscheinung gelten dürfen.Ist denn dem Autor gar nichts heilig? Nichtmal die Jahreszeiten? Ein alterund selbstverständlich zweifelhafter Aberglaube besagt allerdings,daß die auffliegenden Seelen just Verstorbener uns als Schmetterlingeerscheinen, was immerhin dies&das erklären würde.